„Ein Mädchen? Nein, danke!“ Was meine sechsjährige Tochter aus dem geschenkten Buch vom Bundesministerium für Bildung und Forschung lernen soll

Die Schule der Magischen Tiere

Berlin, 24.02.2019

Liebe Bundesministerin für Bildung und Forschung, liebe Stiftung Lesen, lieber Carlsen-Verlag, liebe Margit Auer,

ich schreibe Ihnen, um mich bei Ihnen für das Buch zu bedanken, dass Sie meiner Tochter zur Einschulung geschenkt haben und das in Ihrer aller Zusammenarbeit entstanden ist!

Wie schön, ein geschenktes Buch, habe ich mich gefreut, als meine Tochter damit nach Hause kam und dann von so offiziellen Stellen wie der Stiftung Lesen und dem Bundesministerium für Bildung! Da hat man bestimmt auf Ausgewogenheit in der Geschichte geachtet, dachte ich mir. Denn wissen Sie, ich ärgere mich häufig über Bücher, in denen Geschlechterstereotype festgeschrieben werden und in denen immer die Jungs die Abenteuer erleben, während die Abenteuer der Mädchen sich auf Alltagstätigkeiten beschränken wie Uhr lernen, Zahnärztin besuchen und Geburtstag feiern.

Abenteuer jenseits vom Reiterhof – juchhu!

Ich bin also immer auf der Suche nach Geschichten, in denen sich meine Tochter mit Mädchen als Heldinnen identifizieren kann und in denen die Protagonistinnen Abenteuer auch mal jenseits von Ferien auf dem Reiterhof erleben. Es ist, wie gesagt, nicht leicht, solche Bücher zu finden. Den Klassikerinnen Pippi Langstrumpf, Ronja Räubertochter oder Bibi Blocksberg steht ein Heer von männlichen Protagonisten gegenüber. Also habe ich mich über Ihr Buchgeschenk gefreut!

Leider nur kurz.

Das Buch, das Erstklässler*innen zum Schulanfang von Ihnen geschenkt bekommen heißt „Die Schule der magischen Tiere“ und es macht erst einmal einen guten Eindruck! Auf dem türkisfarbenen Buchdeckel sind ein Mädchen, zwei Jungen und paar Tiere abgebildet. Innen ist das Buch didaktisch interessant aufbereitet. Die linke Seite der Geschichte lese immer ich, bei Ihnen bin ich mitgemeint als „der Vorleser“. Sei‘s drum. Auf der rechten Seite darf sich die Leseanfängerin ausprobieren.  Es gibt Comics, Exkurse und Glossare. Ein wirklich hübsch gestaltetes Buch. Meine Tochter und ich machten es uns also an jenem Abend im Kinderzimmer gemütlich und ich fing an zu lesen.

„Da drüben zog ein Mädchen ein. So ein Mist!“

Die Geschichte beginnt mit dem Jungen Benni, der saust auf seinem Skateboard nach Hause, dort vor der Tür entdeckt er einen Umzugswagen. Benni hofft auf einen neuen Nachbarsjungen, denn am nächsten Tag beginnt die Schule. Als er dann aber die Möbelpacker eine Kommode ins Haus tragen sieht, an der ein Plakat mit Vampiren hängt, ist die Enttäuschung groß, und ich komme beim Vorlesen das erste Mal ins Stocken.

„Benni stöhnte. Ganz klar, da drüben zog ein Mädchen ein. So ein Mist! Traurig rollte Benni nach Hause“.

Auf der rechten Seite soll meine Tochter jetzt folgendes vorlesen:

„Einen Freund, den hätte er gut gebrauchen können. Aber ein Mädchen? Nein, danke!“

Zum Glück kann meine Tochter, frisch eingeschult, noch gar nicht lesen, und ich denke mir einen Text für diese Seite aus:

„Aber hey – erstmal abwarten, vielleicht ist das Mädchen ja sehr nett und Benni und sie können Freunde werden.“

Für meine Tochter stellte sich die Problematik bisher nicht, dass Jungs und Mädchen keine Freunde sein können. Einer ihrer besten Freunde in der Kita war ein Junge. Warum sollte ich diesen Konflikt jetzt künstlich für sie aufmachen? Warum tut es Ihr Buch?

Die Geschichte strotzt vor Geschlechterklischees

Auf den nächsten Seiten lernen wir das Mädchen kennen, sie heißt Ida und sie kommt tatsächlich zu Benni in die Klasse und wird seine Sitznachbarin. In der Folge entspinnt sich auch die Geschichte um die magischen Tiere. Ein geheimnisvoller Mister Morrison besucht die Schulklasse, er ist der Inhaber einer magischen Zoohandlung und verschenkt magische Tiere, die sprechen können und immer für die jeweiligen Kinder da sind. Benni und Ida bekommen später jede*r so ein Tier und die tierischen Freund*innen helfen ihnen emanzipatorisch ihre Kräfte zu entfalten. Also eine schöne Geschichte, eigentlich.

Die drei Hauptfiguren sind zwei Jungen und ein Mädchen. Abenteuer erleben hier alle drei. Die Charaktere sind zunächst ausgewogen: Einer der Jungen ist eher ängstlich, unsportlich, das Mädchen hingegen schnell, schlau und mutig. Der andere Junge entspricht eher dem üblichen Klischee: Er ist stark, cool und heckt die wilden Streiche aus. Die Geschichte könnte trotzdem immer noch ganz gut werden – wenn sie nicht vor beiläufig eingestreuten Klischees nur so strotzen würde!

Zickige Mädchen und tolle Jungs

So ist das Mädchen Ida klug, arbeitet gut im Unterricht mit und wird dafür von der Lehrerin gelobt. Wie selbstverständlich ist die Grundschullehrerin eine Frau, der Schuldirektor hingegen ein Mann. Die Mädchen in Idas neuer Klasse werden als gemeine Zicken dargestellt, sie „kichern böse“ über Ida, es gibt eine „Klassenzicke“ und so wendet sich Ida lieber von den so blöd dargestellten Mädchen ab. Und sucht die Nähe zu Jo, der ist der Schnellste in der Klasse, alle finden ihn toll und Ida ist sofort schockverliebt. Die Arme kriegt jetzt kaum noch was gebacken, träumt verliebt den ganzen Tag von Jo, verpasst dabei fast die Freundschaft zu Benni. Der stürzt sich deswegen zunächst allein ins Abenteuer und macht sich auf den Weg zur magischen Zoohandlung. Ida hockt unterdessen zu Hause und schreibt einen Liebesbrief an Jo. Den Brief verliert sie später und Idas Angst, er könne in falsche Hände geraten, wird zu ihrem größten Konflikt in der Geschichte.

Aaaaaahhhhh!

Verstehen Sie, dass ich so einen Quatsch meiner Tochter nicht vorlesen möchte? Und dafür gibt es mehrere Gründe: Mein Kind ist sechs Jahre alt. Das alles hat nichts mit ihrer Lebenswelt zu tun! Mädchen kommen nicht in die Schule, um sich dort in den erstbesten Jungen zu verlieben! Sie wollen die Welt entdecken, lesen, schreiben und rechnen lernen, spielen, turnen, Spaß haben, Experimente machen und ja, auch Abenteuer erleben!

Was soll meine Tochter aus dieser Geschichte mitnehmen?

Geschichten kreieren Wirklichkeit. Sie haben die Macht, die Sie so ein Buch schreiben, herausgeben, bezahlen, fördern – diese Wirklichkeit zu gestalten! Warum sollte ich einer Sechsjährigen eine Geschichte vorlesen, in der sie sich voraussichtlich identifizieren wird mit dem gleichgeschlechtlichen Kind, dessen größte Herausforderung in der Geschichte die Liebe zu einem Jungen ist? Während die Jungen in diesem Buch über sich selbst und ihre Schwächen hinauswachsen dürfen? Am Ende werden sie dabei unterstützt – von dem Mädchen. Soll das mein Mädchen lernen? Ihre Aufmerksamkeit auf den schnellsten, stärksten Jungen der Klasse zu richten und ihm am Ende beim „Über sich hinauswachsen“ den Rücken freizuhalten? Ist das die Botschaft, die sie für Erstklässlerinnen in ihrem ersten Lesebuch haben?

Es ist Ihre Aufgabe so eine Geschichte gleichberechtigt zu gestalten!

Ja, ich sehe, dass Sie sich auch Gedanken gemacht haben. Bennis Thema ist, dass er nicht besonders schnell rennen kann, sein magisches Tier, die Schildkröte, hilft ihm zu trainieren und Ida ist sportlich und schnell und am Ende sind Benni, Jo und Ida Freunde und ihre Freundschaft bringt sie voran. Nein, es war nicht alles schlecht an dieser Geschichte. Ich habe sie meiner Tochter trotzdem nicht weiter vorgelesen. Von einem so offiziellen Buch erwarte ich einfach was anderes! Es ist Ihre Aufgabe, eine solche Geschichte gleichberechtigt zu gestalten und allen Figuren die Chancen zu eröffnen, unterschiedliche nichtstereotype Facetten auszuleben, und damit auch den Leser*innen dieses Buchs, unseren Kindern, die sich mit den Figuren identifizieren.

Ich berate Sie gern!

Offensichtlich war Ihre Autorin dazu nicht in der Lage! Muss sie auch nicht sein, aber wenn sie es nicht vermag, Aspekte von Gleichberechtigung und Vielfalt zu integrieren, dann lassen Sie sich doch helfen und beraten! Weitergehende Fragen könnten dann sein: Warum sind alle Hauptfiguren im Buch per default weiß? Warum sieht man keine mit einer Behinderung? Ich kenne mehrere Stellen und Personen mit Expertise für Vielfalt und Geschlechtergerechtigkeit, die Sie da beraten könnten und auch ich selbst wäre hoch erfreut Sie zu beraten!

Ich freue mich von Ihnen zu hören!

Beste Grüße!

SB

 

 

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