Es gibt keine Trotzphase! Oder: Wie ich mein Kind manipuliere

micha

Wer kennt das nicht: Eltern wollen etwas von ihren Kindern – und die machen ganz genau das Gegenteil. So auch in diesem Moment – mal wieder – bei mir und meinem gerade zweijährigen Kind. Anstatt zu baden (was ich will) steht sie stampfend in ihrer Badewanne, ruft „Handtuch! Handtuch!“ und will schon wieder raus. Als ich gerade das Duschgel auf meine Hände gekippt habe, um sie am ganzen Körper einzuseifen, setzt sie sich doch hin und plantscht fröhlich im Wasser, wobei ihr die Wasseroberkante bis zum Halse steht. So kann ich sie nicht einseifen. Während mir also das Duschgel von der Handinnenfläche zu fließen beginnt fordere ich sie auf, sich bitte wieder hinzustellen, damit ich sie einseifen kann. Keine Reaktion. „Bitte, ich kann dich doch sonst nicht einseifen“. Keine Reaktion. „Los, komm, stell dich hin“. Jetzt immerhin eine Antwort: „NEIN!“. Das Duschgel fließt mir auf die Handgelenke. Ratlos stehe ich vor ihr und fordere sie von oben mit ärgerlicher, lauterer Stimme auf: „Schluss jetzt! Steh auf!“

Wie wird das Kind wohl reagieren? Klar, es wird nicht aufstehen. Und warum? Na ist doch klar, sagen viele Eltern: Die Trotzphase. Sie will eben Grenzen austesten.

Doch dass es so einfach nicht ist, weiß ich seit der Lektüre von Jesper Juuls Buch „Das kompetente Kind“. Darin schreibt Juul, dass Kinder als soziale Wesen programmiert sind, die mit ihren Eltern/Bezugspersonen im Einklang leben wollen und nicht im Konflikt. Kinder wollen kooperieren, denn sie wollen ihre Umwelt und ihre Bezugspersonen nachahmen. Allerdings kooperieren sie nur dann, wenn ihre Integrität gewahrt bleibt. Oder nach Juul: Nur dann, wenn die Kinder das Gefühl haben, dass sie von ihren Eltern wertgeschätzt werden.

Diese Integrität der Kinder wird allerdings ständig verletzt, da Kinder mit vielen -nicht-erklärten- Verboten, Bestrafungen, Liebesentzug und körperlichen Grobheiten konfrontiert werden. Weil Erwachsene stärker und größer sind, behaupten sie die Deutungshoheit über „Richtig“ und „Falsch“ in dieser Welt. Es entsteht ein Machtungleichgewicht zwischen Erwachsenen und Kindern. Dieses Machtverhältnis wird Adultismus genannt.

Adultismus ist überall wo Kinder sind. Ich habe noch nie einen Spielplatz besucht ohne Zeuge eines Machtmissbrauchs durch Erwachsene gegenüber Kindern zu werden. Oder habt ihr eine dieser Situationen noch nicht beobachtet?

  • Eine Mutter sagt zu ihrem Kind als Pseudo-Erklärung „Dafür bist du noch zu klein“ (Absprechen der Verständnisfähigkeit)
  • Ein Vater will gehen und hebt das Kind ohne Vorwarnung von hinten unter den Armen hoch und trägt es davon (Demütigung)
  • Eine Erzieherin zählt langsam von 1 bis 3, damit ein Kind etwas tut (Drohung)
  • Ein Mensch packt ein Kind am Arm und zerrt es zum gewünschten Ort (Physische Gewalt)
  • Ein Erzieher sagt vor der ganzen Kita-Gruppe: „Seht ihr, das hat Emil nun davon“ (Beschämung, Demütigung)
  • Eine Oma sagt zum Kind „Wenn du das nicht tust, bin ich aber sehr traurig“ (Drohung mit Liebesentzug)
  • Ein Onkel sagt „Wenn du nicht lieb bist, dann kriegst du auch nicht…“ (Erzwingen von Verhalten / Drohen)
  • Ein Vater sagt zu seinem Kind auf dem Spielplatz „Du musst teilen“ (Aufzwingen von eigenen Normen unter Missachtung des akuten Bedürfnisses des Kindes; dem Kind absprechen eigenverantwortlich handeln zu können)

Dazu kommt die Art und Weise, wie wir dem Kind sprechen. Kinder werden selten um etwas gebeten oder gefragt, sondern oft mit einer unauthenthisch hohen Stimme zurechtgewiesen, gewarnt und bewertet. Der einfachste Test um Adultismus bei mir festzustellen ist, mich selbst zu fragen, ob ich in der gleichen Situation mit einem Erwachsenen genauso reden würde. Probiert’s mal!

Durch dieses allgegenwärtige adultistische Verhalten wird das Selbstwertgefühl der Kinder beschädigt. Ist der Schaden zu groß, bleibt ihnen nur noch eine Strategie um daran nicht kaputt zu gehen: Der Widerstand gegen den Unterdrücker – oder wie dieser es zynisch nennt: „Trotz“.

„Trotz“ ist also keine Phase, die in der Entwicklung eines jeden Kindes eintreten muss, sondern das Ergebnis vieler komplexer sozialer Interaktionen mit den Erwachsenen. Dass Erwachsene diese Tatsache ignorieren und stattdessen das Verhalten ihrer Kindern als „Trotzphase“ abtun, zeigt wie schief das Machtverhältnis ist. Denn durch das Abtun als „Trotzphase“ übertragen die Eltern den Kindern die Verantwortung für den Konflikt und legitimieren damit wiederum ihre eigene Macht.

 

Soweit die Theorie.

Doch wie bekomm‘ ich jetzt mein Kind dazu aus der Badewanne aufzustehen bevor mir das Duschgel aus den Händen gleitet?

Eine Lösung für unsere „Trotzphasen“-Probleme stellt für mich die „Gewaltfreie Kommunikation“ (GfK) dar. Sie geht davon aus, dass hinter jedem Gefühl und jeder Handlung eines Menschen ein unbefriedigtes Bedürfnis steht. In unserem Fall mein Bedürfnis nach Ordnung im weitesten Sinne und ihr Bedürfnis nach Autonomie und Spiel. Da aber die Grundbedürfnisse bei allen Menschen vorhanden sind, wäre es eine Frechheit wenn eine_r von uns sich anmaßen würde darüber zu urteilen, welches Bedürfnis wertvoller ist als das andere. Stattdessen empfiehlt GfK sich in das Gegenüber hineinzuversetzen, seine Bedürfnisse zu erahnen um dann eine gewaltfreie Bitte an es zu richten. Diese Empathie, dieses Ernstnehmen des Gegenübers ist zwar sehr schwer (zumal in unserer Gesellschaft des Gewinnens und Dominierens), führt aber oft zu überraschend einvernehmlichen Lösungen.

Zurück im Bad. Als ich merke, dass ich mit Lauterwerden und Forderungen – natürlich und wie immer – nicht weiterkomme, breche ich radikal mit meiner Stimmung. Ich atme durch und sage mir „GfK on!“:

Als erstes stelle ich Augenhöhe her und gehe in die Hocke und damit auf ihre Höhe. Dann atme ich durch und sage in tiefer, ruhiger Stimme „Ich möchte dich gern am Körper einseifen, damit du sauber bist und schnell aus der Wanne raus kannst. Ich kann dich aber nicht einseifen weil du im Wasser sitzt.“ Nach einer kurzen Pause, die ihr das Verstehen ermöglichen soll, formuliere ich gewaltfrei eine Bitte, zu der sie sich mit Ja oder Nein verhalten kann: „Könntest du dir vorstellen, dich noch mal hinzustellen?“ Wichtig ist dabei, dass ich authentisch und überzeugend rüberbringe, dass auch ein „Nein“ von ihr möglich ist und ich es akzeptieren würde (Ich würde in dem Fall tatsächlich aufs Einseifen verzichten). Danach gucke ich sie für 3 Sekunden an und versuche dabei weder auffordernd, noch böse, noch drohend zu gucken, sondern einfach freundlich und interessiert an ihrer Antwort. Dabei bemerke ich, dass sie ihren Blick beschämt nach unten richtet. Ich stelle mir vor, was jetzt in ihrem Kopf abgeht: „Ja, wäre schon gut, wenn er mich jetzt einseift. Aber eben hat er mich noch halb angeschrien und nun soll alles wieder nach seinen Vorstellungen laufen? Wo bleibt denn da meine Würde?“

Jetzt kommt der wichtigste Moment: Es wäre nun sehr leicht für mich ihr „Trotz“ vorzuwerfen, schließlich würde sie „nur wegen ihres Stolzes“ etwas für sie Gutes nicht tun. Um ihr Raum für eine rationale Entscheidung zu geben, versuche ich also sie nicht weiter zu beschämen und schaue von ihr weg. Damit signalisiere ich ihr, dass ich ihr eine gute Entscheidung zutraue, womit sie automatisch ihre Würde zurückgewinnt.

Nach fünf Sekunden höre ich es plätschern. Sie steht auf, ich lächle sie an und seife sie ein. Wir haben einen wunderbaren innigen Abend, an dessen Ende sie mich umarmend einschläft. Zwar musste ich ein paar Minuten mehr investieren, um den Konflikt zu lösen, aber damit haben wir uns viele Tränen erspart und sie hat erfahren, dass mir ihre Bedürfnisse und ihre Würde wichtig sind. Deshalb war für sie kein „Trotz“ notwendig.

 

1 Kommentar

  1. Danke schön für diesen offenen und ehrlichen Beitrag! Toll, dass du nicht nur Theorie predigst, sondern mit Leben füllst und auch aufzeigst, wo dabei Schwierigkeiten entstanden sind, und wie wichtig es ist, zwischendurch inne zu halten, tief Luft zu holen und sich zu beSINNen. Denn das ist die Frage, die da mit drin steckt, welchen Sinn soll die Beziehung zu einem Kind haben?
    Dieser Machtmißbrauch ist leider wirklich ganz alltäglich und naheliegender Weise besonders auf Spielplätzen zu beobachten.
    Wie wollen wir Menschen miteinander umgehen? Um mit einem KRÄTZÄ-Text anzuschließen:
    „Aber muß Hilflosigkeit und Abhängigkeit zum Anlaß genommen werden, um sich über den anderen zu erheben, ihm ein Ziel vorzuschreiben und das Erreichen dieses Ziels notfalls mit Gewalt durchzusetzen? Macht man dies bei alten Menschen, oder bei Menschen mit Behinderung? Und wenn ja, ist es fair?“
    http://kraetzae.de/erziehung/erziehen_ist_gemein/

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