Wie heißt das Zauberwort?

micha

Ich kann es kaum noch ertragen Zeit auf Spielplätzen zu verbringen. Nicht wegen des Lärms, nicht aus Angst vor waghalsigen Klettergerüstmanövern, nicht aus Unbehagen vor streitenden Kindern, nicht vor der Kaffeelosigkeit und nicht wegen der schrecklichen Eintönigkeit des Kuchenbackens.
Mich quält das Verhalten vieler Eltern. Ich ertrage nicht, wie sie mit ihren Kindern reden!

Ich bin jeden zweiten Tag mit dem Kind auf den vermeintlich progressivsten Spielplätzen des Landes unterwegs: In Kreuzberg 36 und Nord-Neukölln. Dort sehe ich viele Eltern, die ganz offenbar bemüht sind eine moderne Elternrolle zu leben. Doch sobald sie den Mund aufmachen um mit ihren Kindern zu sprechen offenbart sich ihr autoritäres Menschenbild.

So gut wie kein Wort wird mit den Kindern auf Augenhöhe gewechselt. In seltensten Fällen werden Kinder nach ihrer Meinung oder ihren Bedürfnissen gefragt. Es wird vielmehr gemaßregelt, belehrt, ausgeschimpft, unterbunden, normiert. Im besten Fall wird das Kind noch ab und zu gelobt. Aber auch das passiert mit einem Selbstverständnis als wären die Eltern die prüfenden Lehrer im Abitur und nur ihre Vorstellung von richtig und falsch könne gelten. Diese Haltung stößt mir immer dann besonders stark auf wenn Eltern ihren Kindern sagen, was diese zu sagen hätten:

„Wie heißt das Zauberwort?“ (Tipp: „Bitte“)
„Wie sagt man?“ (Tipp: „Danke“)
„Es heißt nicht ,Ich will …‘, es heißt ,Ich möchte bitte…‘„
„Es heißt nicht ,Ich will …‘, es heißt ,Darf ich bitte…?‘„

Ich halte es für grundlegend falsch anderen Menschen vorzuschreiben was sie zu sagen haben. Das gilt für Erwachsene und genauso für Kinder! Wenn ein Kind etwas will, dann ist das Bedürfnis im Kind so groß, dass nach den ihm zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln offenbar „will“ das passende Verb ist. Mit zunehmendem Alter und zunehmendem Wortschatz wird sich das Kind von ganz allein das für die Stärke des Bedürfnisses passende Wort heraussuchen. Ganz davon abgesehen wird die Forderung nach „Danke“ und „Bitte“ auch oft schon an zweijährige Kinder gestellt, die überhaupt noch nicht die emphatischen Fähigkeiten besitzen um so einen komplexen Prozess wie Dank zu empfinden.

Statt also den Kindern Raum zu geben eigene Empathie und sprachliche Differenzierung zu entwickeln wird ihnen eine leere Worthülle der Höflichkeit andressiert.

Ich halte das für sehr gefährlich. Denn wenn man Kindern im Namen der Höflichkeit untersagt ihre intensiven Gefühle mit ihren Worten auszudrücken, dann sind ja die dahinter liegenden Bedürfnisse nicht verschwunden, sondern werden weggedrückt. Wenn wir Kindern beibringen immer höflich und integer zu sein, dann schaffen wir Raum für Oberflächlichkeit und angestaute Aggressionen. Wollen wir nicht lieber Menschen aufziehen, die ihre Bedürfnisse klar artikulieren auch wenn es mal unangenehm ist? Wollen wir nicht lieber offene, klare Streits als subtile Aggressionen hinter einem aufgesetzten Lächeln?

Natürlich ist Höflichkeit eine zivilisatorische Leistung und ich finde viele Formen davon sehr erstrebenswert. Aber ich denke man kann Höflichkeit nicht antrainieren, sondern nur vorleben! Könnte es eventuell sein, dass Kinder nur deshalb so „unhöflich“ miteinander umgehen, weil auch die Erwachsenen so „unhöflich“ mit ihnen umgehen? Woher, wenn nicht von den Erwachsenen, sollten sie überhaupt ihren fordernden, undankbaren Ton haben?

Wir haben unserem Kind niemals gesagt was es wie zu sagen hat. Wir bestehen auch auf keine Höflichkeitsfloskeln und erwarten keine Dankbarkeitsgesten. Aber: Wir versuchen mit unserem Kind auf Augenhöhe und wie mit einem Erwachsenen zu sprechen. Das heißt: Ich frage das Kind wenn es im Wege steht, ob ich mal kurz vorbei dürfte und bedanke mich bei ihm wenn es mich durchlässt. Ich nehme das Kind nicht einfach überraschend auf den Arm, sondern gehe in die Knie, strecke meine Arme aus und frage „Darf ich dich auf den Arm nehmen und wir gehen los?“

Und wisst ihr was? Unser Kind sagt momentan mit einem erstaunlich feinen Gespür für die Situation „Danke“, „Bitte“ (auf beide Arten) und fragt manchmal „Darf ich?“. Wenn wir niesen sagt es von sich aus: „Gesundheit!“ Denn natürlich will das Kind uns nachahmen und so reden wie wir es tun!

Deshalb möchte ich alle Eltern dazu ermuntern: Erspart euch die Höflichkeitsdressur, seid lieber selbst höflich zum Kind, wenn ihr es auch so meint. Ihr erspart euch damit viele Worte, viel Streit und viel Stress. Denn nicht nur ist es nervig und manchmal peinlich das Kind immer wieder an „Danke“ und „Bitte“ zu erinnern, sondern wenn das Ziel dann endlich erreicht ist und die dressierten Püppchen gelernt haben bei allem höflich „Dürfte ich bitte…“ zu fragen, dann schießen sie oft übers Ziel hinaus. Wie neulich das zehnjährige Kind eines mir bekannten Elternpaares, das beim Melone-Essen fragte „Mami, darf ich das Grüne auch mitessen?“

Ich möchte den meisten Eltern unterstellen, dass es gar nicht ihre Absicht ist, ihre Kinder auf Spielplätzen so viel zu maßregeln. Vielmehr vermute ich hinter ihrem Verhalten ihre eigene Unsicherheit gegenüber den anderen Spielplatzeltern, die sie versuchen durch erlernte oberflächliche Höflichkeitsfloskeln zu überspielen. Wenn ihr Kind dann von einem anderen Elternteil eine Weintraube geschenkt bekommt, schicken sie es zurück und befehlen dem Kind „Sag ,Dankeschön‘!“. Warum so aufwändig, erniedrigend, unangenehm und indirekt? Warum nicht einfach das ausdrücken, was man wirklich selbst empfindet? Ich bin in diesen Situationen dem anderen Elternteil dankbar dafür, dass es meinem Kind auch eine Weintraube gegeben hat. Anstatt das Kind durch Demütigung zu Höflichkeit zu zwingen, lebe ich Höflichkeit vor und sage zum gegenüberstehenden Elternteil:

„Danke.“

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